Leseproben

Viel Spaß beim Stöbern in den Texten

Menschen mit Beeinträchtigungen möchten und haben ein Recht darauf am Leben uneingeschränkt teilzunehmen. Oft ist das aber nur mit einer Assistenz möglich. Manuela Schupp war bereit, von ihrem Alltag mit Assistenz zu berichten.

 

Leben mit Assistenz

Spinale Muskelatrophobie, tritt meist bereits im ersten Lebensjahr auf. Nervenzellen und Rückenmark und Hirnstamm bilden sich zurück, was zu ständig fortschreitender Muskelschwäche und -schwund führt. Auch Manuela Schupp hat diesen Gendefekt. Sie hat Pflegegrad 5. Ohne fremde Hilfe kann sie lediglich den Kopf und die rechte Hand bis zu einem gewissen Grad bewegen. Ein Leben ohne ständige Assistenz ist für sie nicht möglich.

Frage: Was genau beinhaltet die Pflege?

Manuela: Alles. Meine Assistentinnen holen mich morgens mit einem Lifter aus dem Bett, waschen mich, putzen mir die Zähne, helfen mir beim Toilettengang, helfen mir beim Essen, was sie natürlich auch zubereiten, überhaupt kümmern sie sich  um  meinen gesamten Haushalt, aber ich bestimme, was wann und wie gemacht wird. Aber sie begleiten mich auch ins Theater oder gehen mit mir shoppen. Selbst über meinen Alltag zu bestimmen ist wichtig für mich. Die Assistentinnen ersetzen mir Arme und Beine, aber ich will selbstbestimmt leben

Frage: Du hast also ein sehr enges Verhältnis zu deinen Assistentinnen?

Manuela: Ja, das ist fast schon ein  intimes Verhältnis. Da muss schon die Chemie zwischen uns stimmen, sonst ist es schwer für mich ein so hohes Maß an Nähe zuzulassen. Oft denke ich, dass meine Assistentinnen meinen Körper besser kennen als ich selbst.

Frage: Wie rekrutierst du deine Assistentinnen und ist es schwierig sie zu finden?

Manuela: Zeitungsanzeigen, Internet, Aushänge in der Uni. Da gibt es viele Möglichkeiten. Sympathie auf beiden Seiten muss vorhanden sein, sonst kann ich einen anderen Menschen nicht so nah an  mich heranlassen. Ich versuche aber auch Verständnis für die Bedürfnisse der Assistentinnen aufzubringen, da entwickeln sich manchmal richtige Freundschaften. Es kommt auch auf Team an, wie müssen uns alle aufeinander verlassen können.

Frage: Wie wird das finanziert?

Manuela: Aus verschiedenen Töpfen, der Pflegkassen und dem Amt für Soziale Dienste. Es bleibt aber immer noch ein hoher Eigenanteil.

Frage: Ist es schwer, nie wirklich allein sein zu können?

Manuela: Ja, das ist oft nicht einfach, aber ich versuche Techniken zu entwickeln, die mir einen Rückzug ermöglich, wie Meditation oder ähnliches. Zudem ist mir sehr bewusst, wie wunderbar die Menschen sind, von denen ich umgeben bin. Ich kann auf mein Team vertrauen. Nur nachts bin  ich allein. Aber auch dann habe ich natürlich immer einen Notfallknopf griffbereit. Aber da ist noch etwas: Ich bin bis heute meiner Mutter sehr dankbar, die mich zu einer starken, selbstbewussten und eigenständigen Person gemacht hat. 

Frage: Was wünscht du dir, auch für andere Behinderte?

Manuela: Weniger Bürokratie bei der Bearbeitung all der Anträge, die in meinem Fall immer wieder neu gestellt werden müssen. Mehr Inklusion in allen Bereichen, mehr Normalität und Akzeptanz. Ich wünsche mir, dass mehr gemacht und weniger geredet wird. Ich bin Manuela, nicht die Person im Rollstuhl.

© Sabine Bomeier

 

Infokasten Muskelatrophie

Muskelatrophie ist ein Gendefekt, der mit Gewebeschwund (Atrophie) der Skelettmuskulatur unter Abnahme der Muskelmasse einhergeht. Im späten ist eine makroskopisch sichtbare Verschmächtigung des Muskels bemerkbar.

Der oder die Betroffene kann sich immer weniger aus eigener Kraft bewegen. Die Erkrankung ist nicht heilbar.

Infokasten Assistenz

AssistentInnen betreuen Menschen Hilfe im Alltag benötigen. Das kann zum Beispiel eine Freizeitbegleitung, Hilfe am Arbeitsplatz oder in Schule, Hochschule oder im täglichen Leben sein.

 

Ab wann sind wir alt?

Alte oder netter gesagt, Senioren werden wir alle einmal. Senioren sind für die Wirtschaft eine stark umworbene Gruppe, sie haben Geld und wollen es ausgeben. Senioren liegen arm und pflegebedürftig in ihren Betten, der Staat muss zuzahlen, damit sie halbwegs anständig versorgt werden. Senioren mischen, auch nachdem sie in Rente gegangen sind, noch kräftig auf dem Arbeitsmarkt mit, bringen sich und ihre Erfahrungen ein. Senioren brauchen Pflegekräfte, um in den Heimen gewindelt und gefüttert werden zu können. Irgendwo dazwischen befinden wir uns. Ab wann sind wir alt?

 „Alt werden ist nichts für Feiglinge“, sagte der Schauspieler Joachim Fuchsberger einmal. Recht hat er. Da sind nicht nur die vielen kleinen Wehwehchen, die das Alter so wenig erquicklich machen. Die Hüfte muss erneuert werden, heute kein Problem mehr und es kneift im Magen, wenn etwas Falsches gegessen wird, was doch früher so gut vertragen wurde. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Aber das ist es nicht allein. Für viele Menschen heißt älter werden und damit die Welt der Berufstätigen zu verlassen, in Zukunft arm zu sein. Laut den Maltesern leben über drei Millionen Menschen über 65 Jahre unterhalb der Armutsgrenze, das heißt, sie haben weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Deutschen zu ihrer Verfügung und sind damit nicht mehr in der Lage ihre Bedürfnisse angemessen zu befriedigen. Und das oft nachdem sie jahrzehntelang gearbeitet und in die Rentenkasse eingezahlt haben. Sie erhalten Grundsicherung im Alter, was nichts anderes als Bürgergeld für Alte ist, nur sind im Alter die Möglichkeiten des Hinzuverdienstes geringer. Gelingt es doch, einen Minijob oder etwas in der Art zu ergattern, so dürfen sie lediglich 30 Prozent des Verdienstes behalten, schließlich stehen sie dem Arbeitsmarkt ja eigentlich nicht mehr zur Verfügung, arbeiten aber dennoch. Diesen Widerspruch aufzuklären will mir nicht gelingen. Viele erleben damit das Alter als entwürdigend. 

Dafür wird mit dem Alter in der Pharmaindustrie geworben. Von der Stützstrumpfhose, über den Rollator bis zum fitmachenden Nahrungsergänzungsmittel kann der alte oder ältere Mensch alles erdenkliche erwerben, Hauptsache er oder sie gibt Geld aus. Gerne auch für einen Langzeiturlaub auf einer sonnigen Insel.

Und dann ist da auch noch die Einsamkeit, unter der so viele ältere Menschen leiden. Zum einen, weil das Geld fehlt, um ständig unterwegs sein zu können, aber auch weil die Mobilität oft stark eingeschränkt ist. Ein eigenes Auto ist nicht mehr vorhanden, weil man zu unsicher hinterm Steuer ist und Busse und Bahnen fahren nicht so, wie es gewünscht wird. Auf die Bedürfnisse Älterer wird in der Mobilitätsplanung kaum Rücksicht genommen. 

Und überhaupt: Wo sind die kostengünstigen Begegnungsstätten für Ältere oder Ruhepunkte in der Stadt? Einfach sich mal hinsetzen können, sich etwas ausruhen und vielleicht mit anderen ins Gespräch kommen. Auch an solchen Möglichkeiten mangelt es.

Warum werden wir nicht viel öfter und intensiver in Verkehrs- und Mobilitätsplanung mit einbezogen? Gleiches gilt für den Wohnungsbau oder die Stadtplanung und so vieles mehr. Denn wir mögen nicht mehr jung sein, aber denken können wir immer noch. Und auch laut und fordernd werden können wir noch. Es wird Zeit aufzustehen.

© Sabine Bomeier

 

Die Pechmarie

 

Ein richtiger scheiß Tag ist das, nicht nur dass ich heute Morgen verschlafen habe, auch die Jeans sitzt nicht mehr so, wie es sein sollte, ich werde immer fetter, und die neue Bluse hab´ ich mir beim Frühstück mit Ei bekleckert. Und das alles nur, weil ich immer an den Streit mit Peter denken musste, hin und her diskutiert haben darüber, was wir im Winterurlaub machen könnten. Ski fahren oder in die Sonne? Und nun muss ich auch noch bei dem Regen raus, aber der Termin beim Friseur lässt sich nicht verschieben. Also rein in den Regenmantel und los.

Schon von weitem sehe ich sie. Sie sitzt wieder an der Halstestelle - unsere Marie, auch Pechmarie genannt. Wie sie wirklich heißt, weiß eigentlich keiner. Aber Marie wird schon ihr Vorname sein. Irgendwann wurde dann Pechmarie daraus. Wahrscheinlich, weil sie so sehr nach stetem Pech aussieht, immer etwas schmuddelig und doch sicher nicht glücklich und zufrieden mit ihrem Los.

Den Einkaufswagen hat sie natürlich auch dabei, all ihre Habe hat sie darin verstaut, er quillt fast über vor vollgepackten Plastiktüten. Ohne den Wagen geht sie nirgends hin, zottelt damit laut rumpelnd durch alle Straßen unseres Viertels. Es gibt kaum einen, der sich nicht kennt. Aber meistens trifft man sie hier an der Bushaltestelle, wohl wegen des kleinen Wartehäuschens, in dem sie vor Wind und Regen halbwegs geschützt ist. Alle Versuche, sie von hier zu vertreiben, sind bisher fehlgeschlagen. Sie sitzt auf der Bank, steht nur auf, wenn alte Damen oder gebrechliche Menschen kommen, denen bietet sie dann freundlich Platz an. Sie bettelt die Passanten an, selbst jetzt noch im Spätherbst. Nur im Winter geht sie in eine Notunterkunft, das hat sie mir mal erzählt,  in einem Ton, als würde sie sich von einer Nachbarin für eine Weile verabschieden. Naja, irgendwie sind wir ja auch Nachbarn. Es gibt Mütter, die ihre Kinder wegzerren, wenn sie auftaucht, aber sie tut sicher niemandem etwas, sitzt immer nur da in ihren viel zu großen, ausgetretenen und kaputten Schuhen, der weiten schmutziggrauen Jacke  mit den Löchern am Ellbogen und guckt freundlich, jedermann anlächelnd.

Wenn sie gut drauf ist, dann quatscht sie zudem jedem die Ohren voll, jedenfalls solange, bis endlich die Bahn kommt und man erlöst dort einsteigen kann. Okay, ich werfe ihr einen Euro in ihre Blechbüchse und hoffe, dass meine Bahn bald kommt. Aber der Tag bleibt schlecht, es wird an der elektronischen Tafel die Verspätung meiner Bahn angezeigt. Ich werde nicht nur zu spät zu meinem Friseur kommen, die Pechmarie lässt sich zudem diese Chance nicht entgehen und will mir ihr Leben erzählen.

„Holst du uns einen Kaffee vom Bäcker, das macht dir das Warten leichter und mich wärmt er“, meint sie zu mir gewandt, mit einem Blick, in dem so etwas wie ein sanfter Befehl liegt. Ich schaue mich um, hoffe auf irgendeine Hilfe, aber da ist niemand. Nur Pechmarie und ich teilen uns den Unterstand an der Haltestelle.

„Ist eh schon alles egal, ich hole Kaffee“, gebe ich mich geschlagen und flitze durch den Regen zum nahen Kiosk. Zurück geht es langsamer, denn ich habe auf dem Papptablett, dass man mir der Kioskbetreiber netterweise mitgegeben hat, außer dem Kaffee auch noch zwei Croissants liegen. Wenn schon, denn schon.

„Danke, das wird ein gutes Frühstück“, meint Pechmarie und langt mit schmutzigen Fingern und noch schmutzigeren Fingernägeln zu, sobald ich das Tablett auf den Plastiksitz gestellt habe. Da sitzen wir nun also beide unter dem Dach des Wartehäuschens, auf das der Regen trommelt, zwischen uns nur das Tablett, eine leicht zu überwindendende Grenze. Sie lächelt mich an als sie sich nach dem letzten Bissen ins Croissant die Finger ableckt, sie greift mit beiden Händen um den Pappbecher mit dem Kaffee, ich auch und lächle sie unsicher an, aber ich glaube, so etwas wie eine beginnende Vertrautheit in ihrem Blick zu sehen. Sie lächelt zurück.

„Hast du etwas gemerkt? Ich habe dich nur um Kaffee angeschnorrt, nicht auch noch um einen Flachmann, denn ich trinke ja nie Alkohol, obwohl das ja viele von uns tun, ich meine die anderen, die so wie ich auf der Straße leben. Im Winter tut so ein Schluck aus der Flasche eigentlich auch ganz gut, macht warm und lässt die Welt schöner aussehen. Aber ich will klar bleiben, will die Welt sehen, wie sie ist, die ist nämlich auch ohne einen Schluck aus der Buddel ziemlich schön. Außerdem wollte mir schon mal jemand an die Wäsche, mitten in der Nacht, unter der Brücke, da wo ich meistens schlafe. Mit klarem Kopf kann ich mich besser wehren. Aber darüber rede ich nicht. Das war nicht schön. Du kennst das wohl nicht, aber es ist gar nicht so einfach, für die Nacht einen sicheren und trockenen Schafplatz zu finden. Ich gebe es ja zu, ich habe immer auch ein bisschen Schiss in der Nacht, aber wenn es trocken und warm ist, dann gibt es nichts Schöneres als im Freien zu schlafen, den Sternenhimmel so über einem. Musst du auch mal probieren“, plappert Pechmarie vor sich hin und kramt in ihren Taschen nach Zigaretten. Sie bietet mir eine an. “Ich rauche nicht“, lehne ich ab. „Das ist gut“, sagt sie und schaut mich an, als sei ich ihre Tochter auf die sie stolz ist.

Und ich denke an die Campingurlaube auf Sizilien in meiner Jugend, in denen ich tatsächlich manchmal im Freien am Strand geschlafen habe. Aber das lässt sich wohl doch nicht vergleichen. „Aber würdest du denn nicht lieber in einer richtigen Wohnung leben, sicher, warm und trocken?“, frage ich sie erstaunt über ihre zufriedene Stimmung.

„Hatte ich ja alles, aber da war dann auch mein Mann und der war nicht immer nett. Verprügelt hat er mich, immer wieder. Einmal hat er so zugeschlagen, dass es seitdem bei mir im Kopf nicht mehr so ganz richtig zugeht. Das haben sie mir im Krankenhaus erklärt, er hat mir da oben etwas kaputt gemacht“, erläutert sie mir und tippt sich an die Stirn. „Mich haben sie dann in eine Anstalt gesteckt. Aber da wollte ich nicht bleiben, könnte aber immer wieder hin, das haben sie mir gesagt. Wenn ich mal nicht mehr auf der Straße leben mag, dann kann ich da hingehen. Will ich aber nicht, denn da sagen dir die anderen nach welcher Ordnung du leben musst. Das ist nichts für mich. Ich habe doch meine eigene Ordnung. Der Alte ist in den Knast gekommen, wo er heute ist, weiß ich nicht, habe nie mehr etwas von ihm gehört. Ist auch besser so. Auch mein Sohn ist verschwunden. Schade, den würde ich schon sehr gerne wiedersehen. Er soll bei Pflegeeltern leben. Naja, ist vielleicht auch ganz gut so, ich schaff´ das alles ja nicht mehr so. Manchmal driftet es da oben einfach weg“, sagt sie und tippt sich wieder an die Stirn und meint dann fast nachdenklich weiter: „Sicher hat er es bei den Pflegeeltern gut.“

Sie schweigt plötzlich und schaut mich mit großen Augen an. Zum ersten Mal blicke ich ihr ins Gesicht, sehe die Frau wirklich an, die da vor mir sitzt. Wirr hängen die ungewaschenen blonden Locken ums Gesicht, die Haut zeigt Spuren, die durch eine gründliche Dusche sicher verschwinden würden. Aber keine Falten, fast bin ich neidisch und schäme mich im gleichen Moment für dieses Gefühl. Ich habe Falten aber auch sonst alles, was sie nicht hat: eine schöne Wohnung, genügend Geld, Freunde und ein interessantes Leben und überhaupt alles. Sie muss einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein, denke ich. Vielleicht hat sie nicht viel anders gelebt als ich. Aber das war bevor ihr Verstand sich schutzsuchend hinter Vorhänge verzogen hat, die heute nur noch selten einen Blick hinter sich gestatten. Wer weiß, was dahinter alles verborgen sein mag? Ich frage mich, wer überhaupt hier in der Nachbarschaft ihre Geschichte kennt, wer ihr je wirklich zugehört hat?

„Wo waschen Sie sich denn?“, frage ich und weiß nicht, ob ich ihr diese Frage überhaupt stellen darf. Ist das nicht zu intim und was geht es mich überhaupt an, ob sie sauber ist oder nicht? Ist das überhaupt wichtig?

„Ich geh in die Notunterkunft, da gibt es etwas zu essen und duschen können wir da auch. Das ist ganz praktisch, aber ich mag nicht so gerne im Wasser sein. Ich habe offene Beine und ich will nicht, dass die jeder sieht, das sieht ja nicht so schön aus, aber die Schwester dort, die verbindet mir die, da ist die ganz patent. Und den Kuchen esse ich dort so gerne. Klamotten haben die auch, aber manchmal gehe ich auch an den Container, gleich hier um die Ecke, da findet sich auch immer etwas zum Anziehen. Den Schlafsack hier habe ich aber vom Pastor bekommen. Das ist so ein ganz Netter. Überhaupt macht der für uns immer so schöne Weihnachtsfeiern. Ich gehe da gerne hin. Ist ja bald wieder so weit, ich freue mich schon drauf. Manchmal setze ich mich auch hinten in die Kirche und höre zu, wenn der Organist probt. Das ist, als wenn Engel singen würden.“ Sie schaut mich fast glücklich an und erzählt dann weiter von den Frauen mit der heißen Suppe, die jeden Mittwoch an den Treffpunkt unter der Brücke kommen. „Da muss ich gleich auch hin. Aber bis deine Bahn kommt, leiste ich dir noch Gesellschaft. Das gehört sich doch so“, sagt sie und erzählt weiter, dass sie manchmal auch in die Wärmestube am Bahnhof ginge, dort gäbe es Kaffee, sogar mit ganz viel Zucker. „Ich  mag es eben gerne süß“, gesteht sie und kichert als wäre das eine kleine Sünde, die sich aber großmütig gestattet.

„Wissen Sie, es regnet ja nicht immer so wie heute, es gibt auch richtig gute Tage. Dann sitze ich manchmal in der Innenstadt und bitte die Leute um Geld. So wie auch hier.“ Sie spricht nicht vom Betteln. Hat sie da einen gewissen Stolz? „Wenn ich genügend zusammen habe, dann gönne ich mir einen Burger mit Pommes. Hmm, das schmeckt gut und dann ist das Leben schön. Ja, ich bin schon recht zufrieden“

Da kommt die Bahn dann doch noch, ich stehe auf und reiche ihr die Hand, etwas verlegen ergreift sie die. „Morgen essen wir zusammen Burger mit Pommes“, verspreche ich. „Ehrlich? Du bist aber nett“ meint sie und strahlt mich an. Ich muss in die Bahn einsteigen und weiß, dass es mir doch eigentlich verdammt gut geht.

© Sabine Bomeier

 

 

Aus dem geheimen Tagebuch eines Politikers

Mir wurden Tagebuchaufzeichnungen eines hochrangigen Angeordneten zugespielt, die Einblick geben in die Arbeit von Politikern, insbesondere vor den Wahlen. Dieses „vor den Wahlen“ fängt Monate vor der eigentlichen Wahl an.

 

Aus dem Tagebuch eines Politikers

Meine Mitarbeiter haben mir gesagt, es gäbe da ein Problem, dem ich mich zu widmen hätte. Wenn meine Mitarbeiter sagen, wir haben ein Problem, dann haben wir eines. Sie schauen sich stets und ständig in meinem Umfeld um, und nicht nur dort, ob es etwas zu tun gibt und dann tun sie. Und manchmal muss eben auch ich tun.

Und nun haben sie also mal wieder ein Problem gefunden, um das ich mich kümmern muss, oder sie sich. Angeblich ist es so schlimm, dass meine Wiederwahl auf dem Spiel steht. Die Bürger würden mich nicht mehr wollen. Ich wäre nicht engagiert genug, würde keinen klaren Aussagen treffen. Aber das stimmt nicht und sie müssen mich auch wiederwählen, ich bin doch ihr Abgeordneter - und ich kann auch gar nichts anderes. Wo soll ich denn hin, wenn ich nicht mehr ins Parlament gehen kann?

Wir haben zu wenig Wohnungen, zu viele arme Rentner, die Fahrten mit dem Bus sind zu teuer, in den Krankenhäusern fühlt sich keiner mehr sicher und die Lehrer klagen über zu viele Schüler, die noch nicht einmal gut vorbereitet in den Unterricht kommen. Ob das alles so stimmt, oder meine Mitarbeiter da mal wieder ein wenig übertreiben, weiß ich nicht. Ich kriege das ja nicht so mit. Um die Kinder kümmert sich meine Frau, meine Mutter lebt im Seniorenheim, und krank bin ich selten, aber ich fahre ja auch regelmäßig in die Kur. Sollten die anderen auch ruhig mal machen.

Meine Mitarbeiter haben gesagt, dass ich wohl doch mehr Profil zeigen, deutlich machen müsse, wofür ich stehe und wofür ich kämpfe. Da hätten die Bürger schon recht. Wer sind diese Bürger eigentlich? Ich müsse nachdrücklich zeigen, dass ich an der Seite der Bürger meiner Stadt stehe, einer von ihnen bin, sie verstehe, ihre Sorgen auch meine sind. Gefällt mir, schön hat meine Mitarbeiterin das gesagt. Sie findet immer so zu Herzen gehende Worte. Meine männlichen Mitarbeiter sind immer so sachlich und mir scheint, auch scharf auf meinen Platz im Parlament. Da muss ich aufpassen.

Sie, meine Mitarbeiter, haben sich überlegt, dass wir uns, oder besser: ich mich für den sozialen Frieden in unserer Stadt stark machen soll.

So soll es sein. Künftig stehe ich dafür ein, dass alle ein gutes Auskommen haben und auch im Alter abgesichert sein sollen, ständig überall mit unseren städtischen Bussen hinfahren können, bei Krankheit gut versorgt werden und die Kinder sollen in der Schule viel und ordentlich lernen. Wir müssen dazu eigentlich nur alle zusammen halten und so etwas wie eine solidarische Einheit bilden. Wenn wir alle eine gesetzlich verankerte solidarische Einheit bilden und ich betone: eine gesetzlich verankerte Solidarische Einheit, werden all die Probleme sicher von ganz alleine verschwinden, denn einer steht für den anderen ein. Wenn nicht, wird das eben gerichtlich geahndet. Wir werden also eine Sozialreform fordern, zuvor ein Kompetenzteam bilden, in dem die Reform mit allen nötigen Flexibilisierungsmöglichkeiten ausgearbeitet wird. Es wird sozial gerecht und ökonomisch sinnvoll sein. Das sind wir den Wählern schuldig, denn wir müssen auch an die nächste Generation denken. Und damit sind wir die einzige Partei, die so umfassend sozial denkt - und ich, ja ich bin der Motor dieser Idee.

Wenn wir es so angehen, wie ich es anstrebe und meinen Wählern nahelegen (meine Mitarbeiter sollen dazu doch bitte schnellstens einen entsprechenden Antrag vorbereiten, den kann ich dann noch nächste Woche im Parlament einbringen), dann werden wir die Lage bald wieder im Griff haben. Wir unterliegen da auch gewissen Sachzwängen, denen auch die Opposition sich nicht entziehen kann.

 

PS: Wer sich angesprochen fühlt, ist selber schuld

© Sabine Bomeier

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